Was ist Heimat – Predigt von Pfarrer Friedemann Manz zum Eröffnungsgottesdienst der Vesperkirche Weingarten

Pfarrer Friedemann Manz

Pfarrer Friedemann Manz.

Jeremia 29
Der Prophet Jeremia schickte einen Brief von Jerusalem nach Babylonien an die Ältesten der Gemeinde, die noch übrig geblieben waren, und an die Priester, die Propheten und alle anderen, die Nebukadnezzar dorthin verschleppt hatte.
Denn der Babylonierkönig hatte den König Jojachin, seine Mutter, die Hofbeamten und die führenden Männer von Juda und Jerusalem sowie die Bau- und Metallhandwerker aus Jerusalem weggeführt.
Der Brief hatte folgenden Wortlaut:
Der Gott Israels, der Herrscher der Welt, sagt zu allen, die er aus Jerusalem nach Babylonien wegführen ließ:
»Baut euch Häuser und richtet euch darin ein! Legt euch Gärten an, denn ihr werdet noch lange genug dort bleiben, um zu essen, was darin wächst!
Heiratet und zeugt Kinder! Verheiratet eure Söhne und Töchter, damit auch sie Kinder bekommen! Eure Zahl soll zunehmen und nicht abnehmen.
Seid um das Wohl der Städte besorgt, in die ich euch verbannt habe, und betet für sie! Denn wenn es ihnen gut geht, dann geht es auch euch gut.«

Liebe Schwestern und Brüder,
was ist Heimat? Oder anders gefragt: Was braucht es, damit ein Ort für mich zur Heimat wird?

Würden Sie jetzt für sich aufschreiben, was für Sie ganz persönlich zur „Heimat“ gehört, wir würden ganz unterschiedliche Dinge erfahren:
Da ist der Raum: Oberschwaben, mit den schönen Städten, mit Kirchen und Häusern, mit Bodensee und Alpen.
Da ist der Jahresrhythmus und die Tradition: mit Weihnachten und Ostern, mit Blutritt und Welfenfest, mit Rutenfest und Fasnet.
Da ist Gemeinschaft: in der Kirchengemeinde und dem Sportverein, bei der Feuerwehr oder im Ehrenamtskreis für Flüchtlinge.
Da sind Menschen: Mutter und Vater, Geschwister und Freunde, Nachbarn und Bekannte.

Wir merken: Heimat, das ist vielschichtig. Es hat mit einer Region zu tun. Denn wir Menschen brauchen einen Raum in mittlerer Reichweite, in dem wir Sicherheit und Verlässlichkeit erfahren können, einen Ort tieferen Vertrauens.
Heimat als Gegensatz zur Fremde.
Dieses Vertrauen braucht aber mehr als die reine Kulisse der Städte und der Natur. Heimat beschreibt einen Lebenszusammenhang, in dem ich zu Hause bin.
Das kann an dem Ort sein, an dem ich geboren wurde und etliche Jahre gelebt habe. Es kann aber auch an einem Ort sein, den ich mir zur Heimat mache. Den andere mir zur Heimat werden lassen.
Heimat, das ist ein dynamischer Prozess, eine Geschichte mit einer Wechselwirkung von mir und anderen.

Es ist immer wieder spannend, wie nah die alten Geschichten der Bibel an unseren heutigen Fragestellungen sind. Der Brief des Propheten Jeremia an die Verschleppten in Babylon ist zweieinhalb tausend Jahre alt und doch sehr aktuell.
Die Babylonier hatten Jerusalem erobert und die jüdische Oberschicht nach Babylon deportiert, um künftige Aufstände in Israel zu verhindern.

Nun saßen viele Israeliten in Babylon, einer fremden Stadt mit einer fremden Sprache und einer fremden Religion. Wie sollten sie sich verhalten? Sollten sie die Bräuche ihrer neuen Umwelt annehmen? Das würde aber die Verletzung vieler Regelungen des jüdischen Glaubens mit sich bringen und wäre Ungehorsam gegenüber Gott. Sollten sie sich abkapseln und in ihrer jüdischen Community ihre Religion und ihre Gebräuche pflegen?
Sollten sie sich stets in Bereitschaft halten auf eine mögliche Rückkehr ins gelobte Land Israel? Oder sollten sie sich schweren Herzens auf eine längere Zeit im Exil einstellen?

Die Antwort von Jeremia auf diese Fragen ist eindeutig optimistisch: Baut euch Häuser! Richtet euch auf eine längere Zeit in Babylonien ein. Blickt mit Zuversicht in die Zukunft, was auch Kinder und Enkel einschließt. Und dann: Sorgt euch um das Wohl der Städte, in denen ihr jetzt lebt. Betet für sie! Also: Begebt euch nicht in Opposition, sondern engagiert euch konstruktiv für die Städte und somit auch für euch selbst!

Für manchen Israeliten in Babylon waren diese Worte eine Provokation: Sich im gottlosen Babylon richtig niederlassen. Um das Wohl der verhassten Stadt besorgt sein und sogar noch für sie beten!

Aber Jeremia ist überzeugt: Gott liebt sein Volk. Diese Liebe ist unabhängig vom Wohnort. Die Liebe Gottes können die Menschen in Jerusalem so gut erfahren wie in Babylon. Aber sie müssen dazu bereit sein. Der jüdische Glaube, in dem unser christlicher Glaube wurzelt, ist kein Glaube der Resignation, sondern ein Glaube, der auf die Zukunft und Gottes Verheißungen setzt. Paulus formuliert das unübertroffen so: Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Verzagtheit, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Die Bibelwissenschaftler haben interessante Entwicklungen der jüdischen Gemeinden in der Zeit des babylonischen Exils festgestellt: Einerseits gab es eine schnelle Assimilation der Juden in die Gesellschaft. Manchen machten sogar Karriere am Hof des Königs Nebukadnezzar. Offensichtlich waren sie also um das Wohl der Städte besorgt und engagierten sich in der Gesellschaft.
Andererseits bildeten sich in Babylon Glaubensüberzeu-gungen und Rituale heraus, die seitdem für den jüdischen Glauben unabdingbar sind: Z.B. der Glaube an den einen Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt. Das war sicher nicht konfliktfrei in Babylon mit seinen großen Göttern wie Marduk und Ischtar.

Daneben gewann der Sabbat als komplett arbeitsfreier Tag an Bedeutung genauso wie die Beschneidung als Zeichen des Bundes mit dem Gott Israels. Mit diesen Bräuchen unterschied man sich von der andersgläubigen Umwelt, während man mit anderen jüdischen Geboten notgedrungen freier umging. Denn es war nicht möglich, im unreinen Land Babylon komplett nach den Weisungen Gottes zu leben.

Vorhin hatte ich gesagt, dass Heimat ein dynamischer Prozess sei, eine Geschichte mit einer Wechselwirkung von mir und anderen. Die Juden in Babylon haben das erlebt. Zunächst war es unvorstellbar, in Babylon heimisch zu werden. Doch im Lauf der Zeit gelang es offenbar, den eigenen Glauben weiterzuentwickeln und dabei ein gutes Maß zu finden von Bewahrung der eigenen Identität und aktivem Sich-Einbringen in die Gesellschaft.
Sicher wird es in der jüdischen Community in Babylon auch das ganze Spektrum gegeben haben: Menschen, die sich schnell auf die babylonische Kultur einließen und ihre eigene komplett hinter sich ließen; Menschen, die eine gute Balance fanden von Altem und Neuem; und Menschen, die sich abkapselten und ihre mitgebrachte Lebensweise unverändert praktizierten.

Liebe Vesperkirchengemeinde,
die Situation der jüdischen Exilanten in Babylon hat viele Parallelen zur aktuellen Situation der Flüchtlinge in Oberschwaben. Ob das junge alleinstehende Männer aus Gambia sind oder ganze Familien aus Syrien: Sie finden sich in einem fremden Land wieder. In ihrer angestammten Heimat konnten und wollten sie nicht bleiben. Jetzt müssen sie sich hier zurechtfinden – äußerlich und innerlich. Soll Deutschland ihre neue Heimat werden? Will Deutschland ihre neue Heimat werden? Welche ihrer Lebensgewohnheiten können sie beibehalten, wo müssen sie sich dem neuen Umfeld anpassen?
Ich denke, der nüchterne Satz von Jeremia kann für sie – und für uns als schon länger hier Wohnende – eine gute Richtschnur sein: „Seid um das Wohl der Städte besorgt, in die ich euch geführt habe. Und betet für sie. Denn wenn es ihnen gut geht, dann geht es auch euch gut.“ Jeremia verweist uns auf die Gemeinschaft in den Städten und Gemeinden. Niemand lebt für sich allein. Nur gemeinsam können wir unser Leben meistern. Diesen Geist der gemeinsam zu gestaltenden Heimat gilt es zu fördern und zu fordern, von allen Bürgerinnen und Bürgern, den neuen und den alteingesessenen.

Denn es gilt auch für uns, die wir schon länger in Deutschland sind: Heimat – das ist ein dynamischer Prozess. Unsere Städte und unsere Lebensgewohnheiten sehen heute anders aus als vor 50 Jahren: Italienische Eisdielen, türkische Döner-Buden, schwedische Möbelhäuser – unsere Heimat ist bunter geworden. Und sie wird sich weiter verändern. Wenn wir nicht mit einem Geist der Verzagtheit, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit ans Werk gehen, dann wird es uns gelingen, gemeinsam mit allen anderen Motivierten unsere Städte und Gemeinden so zu gestalten, dass sie zur Heimat werden für alle, die hier Heimat haben und suchen. Der Blick auf die Juden in Babylon zeigt, dass wir dabei nicht alles bewahren werden, was wir heute vielleicht noch für unverzichtbar halten. Aber dass wir dafür Neues gewinnen werden, was uns dann auf neue Weise Identität schenken wird. Das gilt für alle Bereiche unseres Lebens: für unsere alltäglichen Lebensgewohnheiten, für unser Essen, für unsere Kultur und auch für unseren Glauben.

Die Vesperkirche möchte in den nächsten drei Wochen ein Raum der Heimat sein. Ich habe bei den Recherchen zum Begriff „Heimat“ eine interessante Entdeckung gemacht: Es gibt eine diakonische Tradition zu „Heimat“.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Heimat nämlich ein nüchternes Wort, das im juristischen und geographischen Sinne gebraucht wurde. Es ging dabei um das Aufenthalt- oder Bleiberecht. Geburt an sich verlieh noch kein Aufenthaltsrecht; wer kein Heimatrecht besaß, war nicht nur heimatlos, sondern auch weniger privilegiert. „Heimat“ zu haben, bedeutete vor allen Dingen, einen Anspruch auf eine zumindest notdürftige Versorgung durch öffentliche Kassen zu besitzen. Daher bekamen auch Leute ohne Besitz keinen „Heimatschein“, weil man befürchtete, sie würden im Alter oder im Krankheitsfall nur den öffentlichen Kassen zur Last fallen. Heimatrecht gewinnt der Arme, Kranke oder Fremde in einer Einrichtung der Fürsorge, dem Hospital als Alters- oder Armenheim oder dem Fremdenheim, was damals Asyl genannt wurde.

Nun hat der Besuch der Vesperkirche keine juristischen Auswirkungen darauf, ob jemand bei der Stadt Weingarten Ansprüche auf öffentliche Leistungen geltend machen kann. Aber im Inneren der Gäste der Vesperkirche bewegt die Gastfreundschaft in den Vesperkirchentagen durchaus etwas. Davon zeugen die Eintragungen im Gästebuch und die vielen Gespräche. Die vorbehaltlose Annahme, die Wertschätzung, die die Menschen durch die persönliche Begrüßung und die schön geschmückten Tische erfahren, die Gemeinschaft ganz unterschiedlicher Leute an den Tischen, das alles öffnet neue Räume in der Seele, baut auf, stärkt das Selbstwertgefühl, schafft ein Gefühl, dazuzugehören.

Deshalb freue ich mich darüber, dass wir nun wieder drei Wochen Vesperkirche in Weingarten vor uns haben. Um Heimat zu sein. Heimat auf Zeit, die ausstrahlt auch über diesen Kirchraum und die Tage bis März hinaus. Heimat für Sie und mich und alle, die kommen werden.

Amen.