Eine Schirmherrin zum Anfassen – Gerlinde Kretschmann arbeitet einen Tag in der Ravensburger Vesperkirche mit

20 Tage hat die Ravensburger Vesperkirche geöffnet. Bis 8. Februar gibt es für die Gäste ein günstiges Essen, einen geheizten Kirchenraum und Gespräche – nicht selten gegen die Einsamkeit. Am gestrigen Eröffnungstag hat sich die Schirmherrin der Ravensburger Vesperkirche angesagt. Gerlinde Kretschmann, Frau des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, meldet sich – fast überpünktlich – um 9 Uhr in der evangelischen Stadtkirche zum Arbeitseinsatz.

„Bin ich zu früh?“, fragt Gerlinde Kretschmann. Noch ist es ruhig in der Ravensburger Vesperkirche. Um 11 Uhr geht es erst los. Per Bahn, ganz unscheinbar, ist sie an diesem Morgen von Sigmaringen über Aulendorf nach Ravensburg angereist. Jetzt ist sie da. Die Ehrenamtlichen, die schon in der Kirche sind und sich auf ihren Dienst vorbereiten, beäugen sie neugierig aus der Distanz. Gerlinde Kretschmann geht direkt und unkompliziert auf die Menschen zu, begrüßt sie fröhlich. „Was soll ich tun?“, fragt sie die Organisatoren der Vesperkirche. Die weisen ihr eine wichtige Aufgabe zu: Gabel und Messer in eine Papierserviette einrollen. Diese werden dann später den Gästen an der Essensausgabe in die Hand gedrückt.

An diesem ersten Tag der Ravensburger Vesperkirche 2015 werden rund 500 Gäste kommen. Im Laufe der folgenden drei Wochen wird sich diese Zahl noch steigern. 2014 kamen 12500 Gäste. Für 1.50 Euro gibt es ein warmes Mittagessen, Getränke und eine Vespertüte zum Mitnehmen. 100000 Euro müssen die Organisatoren sammeln, um die Spenden finanzierte Vesperkirche zu ermöglichen. Über die Hälfte haben sie bereits zusammen. Gerlinde Kretschmann unterstützt sie – auch mit ihrer Prominenz.

Vesperkirche Ravensburg, Eröffnungstag 20. Januar 2015

Gerlinde Kretschmann im Gespräch mit Gästen der Ravensburger Vesperkirche.

Die Schirmherrin wird an diesem Tag viele Menschen kennenlernen, ihnen die Hände reichen, ihre Nöte anhören. Dabei steht sie hinter der Getränketheke, reicht Nachtisch, serviert Geschirr ab. Die Gäste registrieren dies wohlwollend. Gerlinde Kretschmann weiß, dass sie hier auch als Landesmutter wahrgenommen wird. „Viele finden das toll, jemanden hier zu erleben, den man eigentlich nur aus den Medien kennt“, sagt sie. Sie geht mit dieser Rolle behutsam um. Vielen Gästen sieht man es an, dass sie finanziell bedürftig sind, einige am Rande der Gesellschaft um ihr Überleben kämpfen. Diesen Menschen möchte Gerlinde Kretschmann zuhören, auch wenn es immer wieder anstrengend sei, auf ihr fremde Menschen einen ganzen Tag lang zuzugehen. Man merkt es ihr jedoch kaum an.

Die Ravensburger Vesperkirche basiert auf dem Einsatz von Ehrenamtlichen. Über 350 haben sich gemeldet. In zwei Schichten arbeiten sie in unterschiedlichen Diensten: An der Kasse und am Empfang, bei der Essens- und Getränkeausgabe oder in der persönlichen Zuwendung. Dass Gerlinde Kretschmann an diesem Tag eine von ihnen ist, spornt manche an. „Wir finden das richtig toll, dass sie hier mitarbeitet“, sagt eine Frau, die hinter der Theke steht und Essen ausgibt. Bei der Vorbesprechung der ersten Schicht brandet langer Beifall auf. Gerlinde Kretschmann ist eine Schirmherrin zum Anfassen, so wie sie unter den anderen Ehrenamtlichen sitzt und den Ablauf ihres Einsatzes erklärt bekommt.

Die einzigartige Atmosphäre, die an diesem Tag in der evangelischen Stadtkirche herrscht, beeindruckt Gerlinde Kretschmann. Sie hat auch eine Erklärung dafür. „Ich glaube, dass sich die Menschen hier wohl und angenommen fühlen“, sagt sie. Auch wenn Hunderte von Menschen in der Kirche sind – Hektik kommt kaum auf. Selbst das Warten in der Schlange vor der Essensausgabe lassen die meisten geduldig über sich ergehen. Die Menschenschlange ist dabei so bunt wie die Gesellschaft: Alte Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Studenten, Berufstätige.
„Für mich persönlich war das heute ein runder Tag“, reflektiert Gerlinde Kretschmann ihren Einsatz. Die Vesperkirche sei in Ravensburg inzwischen in der Gesellschaft angekommen. Bereits zum siebten Mal hat die Vesperkirche in Ravensburg und in der unmittelbar angrenzenden Nachbarstadt Weingarten ihre Pforten geöffnet. Seitdem werden es Jahr für Jahr mehr Gäste: Bedürftige, aber auch Menschen, die durch ihren Besuch und ihre Spende die Vesperkirche unterstützen.

So unscheinbar wie sie am Morgen gekommen ist, verlässt Gerlinde Kretschmann an diesem Tag die Vesperkirche. Nach der Schlussandacht pressiert’s. Der Zug von Ravensburg über Aulendorf nach Sigmaringen zwingt sie zum pünktlichen Aufbruch. Ein Mitbringsel für ihren Mann hat sie ebenso in der Tasche: Ein süßes Stückle, überreicht von einer ehrenamtlichen Helferin.